Eine vertiefende Erfahrung dessen, was sich augenscheinlich erkennen lässt, bringt sogleich weitere, beunruhigende Elemente zum Vorschein. Sie wirft uns auf den Betrachterstandpunkt zurück, der bei dem Versuch einer unmittelbaren Deutung der Werke erkennen muss, dass ihm dies nur in großer Unschärfe gelingen kann. Eine Reihe von Grafiken enthält ein gemeinsames, fest umrissenes Zeichen, dessen Wiederholung an serielle Markierung denken lässt, andere weisen einigermaßen unzusammenhängende, gar verschlungene Linien auf, die einem gemeinsamen Bündel entspringen oder zu ihm zusammenlaufen, als seien sie das Resultat freihändigen Arbeitens auf Papier.
Eine tiefere Betrachtung lässt noch ein weiteres Element aufscheinen, das dem Großteil der Arbeiten, mal mehr, mal weniger deutlich, doch stets in nicht unerheblichem Maß Fragen aufwerfend, gemeinsam ist: Abdrücke, die an Hände und abstrahlende Finger erinnern. Unmöglich, angesichts dieser Zeichen – Hinweise auf eine Präsenz, auf die Spur einer Anwesenheit – nicht auch an vorgeschichtliche steinerne Aufzeichnungen zu denken. In seinem Bemühen um Darstellung und Ausdruck presste der primitive Mensch seine Handfläche auf Stein, um dort ihren Abdruck zu hinterlassen. Im Süden des amerikanischen Kontinents findet man solche exemplarischen Vorläufer von Bildern der indigenen Ureinwohner von vor mindestens 9.000 Jahren in der „Höhle der Hände“ (Cueva de las Manos), kurioserweise in der Nähe eines Flusses mit Namen Pinturas (Gemälde) in der argentinischen Region Patagonien. Der Bezug auf derartige Ikonografie aus lang zurückliegenden Zeiten wirft die Frage auf, ob das, was wir in Ottjörgs Arbeiten vorfinden, tatsächlich aus den Prinzipien und Vorgehensweisen der Druckgrafik resultiert; Zweifel, die unserem Begreifen seiner Werke eine weitere Fragestellung hinzufügen und unseren Versuch, zu benennen, was wir da sehen, noch ein weiteres Mal hintanstellt.
In dem Augenblick, in dem man begreift, dass das Geschehen auf der Papieroberfläche das Grafische überschreitet, wird die Übung des reinen Sehens seiner Werke noch unschärfer und entfernt sich abermals von der Gewissheit. Schien die Materialität vorher noch auf die Kerne beschränkt, stellt sie sich nun als der Gesamtheit der Arbeiten innewohnend, als latent heraus: Was einer freihändigen Zeichnung ähnelt, ist in Wahrheit eine Art physisches Material, das ebenfalls auf dem Papier haftet, und was wie ein präzises und deutlich umrissenes grafisches Zeichen wirkt, erweist sich als eine derart kräftige Markierung, dass sie das Papier durchdringt und dort Risse hinterlässt.
***
Bis hierher wurde versucht, ausgehend von einer direkten Konfrontation mit Ottjörgs Werken, wenigstens für einen Moment die Prozesse, Fragen und Intentionen, die den Künstler selbst antreiben, auszublenden – was den Betrachter vor der Begegnung mit dem eigentlichen Werk zu einer orientierten Lektüre verleiten könnte mit dem Risiko, dass sich die Spanne künstlerischer Möglichkeiten darauf reduziert , dass wir nur unsere eigene Erfahrung dem Werk gegenüber aufrufen können.
Unter diesem Gesichtspunkt sei noch einmal das Projekt „Deskxistence“ in Erinnerung gerufen, das Ottjörg seit 2001 betreibt. Bei der Betrachtung dieser Reihe von Drucken wird unser Blick zunächst auf die Fülle von Strichen und den Schwung der abstrakt anmutenden Kompositionen gelenkt. Doch nicht eines dieser Bilder wurde vom Künstler gestochen, sondern er übernimmt nur gefundene Elemente, die er im Druck weiterverarbeitet. Der Ausgangspunkt dieser Reihe sind Schultische, die er überall auf der Welt findet. Er verwendet die Tischplatten, so wie er sie vorfindet, als Druckvorlage, bedient sich also der Inschriften und Spuren auf diesen Schultischen und hebt durch den Druck Zeichen, Ideen, Gedanken und Haltungen hervor, die als Vertiefung mit Bleistift, Kugelschreiber, Schere, Cuttermesser und anderen Geräten von den Schülern dort hinterlassen wurden. Ein Vorläufer dieses Werks ist, vom selben Prinzip der Aneignung bereits existierender Bilder geleitet, das Projekt „Existemale“ (1999), in dem Ottjörg sich eingeritzter Inschriften auf Fensterscheiben von U-Bahnen und Bussen an unterschiedlichen Orten der Welt bedient.
In beiden Projekten erinnert uns die sichtbare Oberfläche an Existenzäußerungen aus einer früheren Vergangenheit. Insbesondere in den Ruinen von Pompeji im Italien des Römischen Reichs finden wir Inschriften, die als früheste historische Vorläufer der Kalligrafien gelten, wie wir sie heute in Äußerungen der Street Art, Graffiti oder der brasilianischen Spielart der „Pixações“ wiederfinden, und die heute die Städte in aller Welt überziehen.
***
„Marca rural”, ein seit Juli 2015 im ländlichen Süden Brasiliens realisiertes Projekt, kann als Weiterentwicklung dieser früheren Arbeiten gesehen werden. Ottjörg ist ein auf globaler Ebene tätiger reisender Künstler der Gegenwart, der für die Umsetzung seiner künstlerischen Projekte transkontinental arbeitet. Nur selbstverständlich also, dass er die mit seinen bildnerischen Investigationen einhergehende ethnografische Neugier auch hier weiterführt. Diesmal nicht in Schulen oder öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern er bricht aus der Stadt auf und wendet sich dem Land zu, um Leben und Gebräuche dort zum Ausgangspunkt seiner neuen Arbeit zu machen.
Bereits auf einer Reise im Rahmen einer Künstlerresidenz 2004 betätigte sich Ottjörg im Landesinneren von Rio Grande do Sul, einem land- und viehwirtschaftlich geprägten Bundesstaat, der im Vergleich zum übrigen Brasilien erst spät europäisch kolonisiert wurde und an Uruguay und Argentinien grenzt. Er reiste nach Pelotas, einer im äußersten Süden gelegenen Stadt, deren Geschichte vom Wirtschaftszyklus des „Charque“ geprägt ist, der Produktion von gesalzenem und sonnengetrocknetem Rindfleisch, das dort im 19. und 20. Jahrhundert auf Fazendas mit eigenen Herden und Schlachthöfen in großem Stil für den Eigenbedarf und den Export hergestellt wurde. Besondere durch die Entwicklung neuer Technologien der Lagerung und Haltbarmachung, wie etwa Kühlhallen oder private Kühlschränke verlor das Trockenfleisch seine wirtschaftliche Bedeutung. Die Landwirtschaft insgesamt und besonders die Viehzucht und die Schlachtung von Rindern für die Fleischproduktion prägen weiterhin diese ländlichen Weiten der Ebene zwischen Brasilien, Uruguay und Argentinien, die Pampa. Sie ist eine geografische und kulturelle Landschaft, in der die Grenzen zwischen den Ländern nur geopolitisch gezogene Trennlinien sind.
Dass Ottjörg für „Marca rural” Mittel der Druckgrafik wählt, verweist wiederum auf eine Erfahrung, die in der Kunstgeschichte des Bundesstaates Rio Grande do Sul und Brasiliens einen besonderen Platz einnimmt: Die in den 1950er Jahren in Porto Alegre und Bagé entstandenen „Clubes de Gravura“. Diese Gruppen von Druckgrafikern beschäftigten sich unter anderem aus sozialem und politischem Engagement heraus mit der Abbildung des Lebens auf dem Land. Aus der sehr unterschiedlichen und qualitativ renommierten Produktion aus dem Umfeld dieser Klubs sticht eine Serie von Holzschnitten des brasilianischen Künstlers Danúbio Gonçalves (1925, Bagé) hervor mit dem Titel „Xarqueadas“ (1952-53). Diese Reihe von Druckgrafiken dokumentiert die handwerkliche Produktion des Trockenfleischs auf eine Weise, wie es sie vorher nicht einmal fotografisch gab, und fällt auf durch ihre technische Genauigkeit sowie die expressive Kraft ihres Realismus. Die Werke porträtieren die Grausamkeit der Schlachtung, die mühsame Arbeit der Dörrfleischproduktion und die harten Lebensbedingungen der Landarbeiter. „Xarqueadas“ nimmt einen kritischen, zugleich regionalen wie globalen Blickwinkel ein. Er orientiert sich zu großen Teilen an der sozial engagierten Haltung der mexikanischen Druckgrafiker und setzt sich damit von einer breiten Bewegung innerhalb der künstlerischen Tradition ab, die sich eher der Romantisierung von Heldenmut, Großtaten und der Heldenfigur des „Gauchos“ verschrieben hatte, wie die Bewohner von Rio Grande do Sul ebenso wie die Viehhirten in den Ebenen Südbrasiliens und angrenzender Länder genannt werden.
***
Mit seiner Rückkehr nach Rio Grande do Sul wählt Ottjörg das Leben auf dem Land als einen Zugang zu fundamentalen Elementen der Gaucho-Kultur. In der Viehzucht entdeckte er ein Interesse an ritualistischen Komponenten bis heute überlebender archaischer Praktiken, die, obwohl bisweilen mit anderen Bedeutungen belegt, ihren uralten Charakter bewahren und bis in die Gegenwart Sinn stiften. Doch die Ausrichtung seiner Arbeit ist deutlich anders als die soziale und figurative Orientierung der Druckgrafik oben erwähnter „Clubes de Gravura“.
In erster Linie verfolgen seine Werke alles andere als einen dokumentarischen Ansatz. Und zweitens hat sein Interesse rein gar nichts mit irgendeiner Art Ausdruck regionaler Werte zu tun - ein Aspekt, der von Titel „Marca rural“ einmal abgesehen, seinen Werken vollständig abgeht. Ein weiteres Mal geht Ottjörg von einer globalen Konzeption der Fragestellungen aus, die ihn bewegen, um von dort aus in Situationen auf lokaler Ebene einzutauchen. In diesem Sinne folgt dieses neue Projekt einem ähnlichen Ansatz wie „Deskxistence“ und „Existentmale“ - und unterscheidet sich andererseits deutlich von ihnen.
In „Marca rural“ steht hinter den Werken abermals eine lange Geschichte, die auf eine in ihnen enthaltende weitläufige Temporalität verweist. Am Anfang taucht der Künstler ein in das Leben auf dem Land. Als Begleiter eines Viehtriebs zu Pferd durch das Hinterland Südbrasiliens und Argentiniens - ein Brauch, der sich in der kulturellen Tradition der Gauchos erhalten hat – lernte Ottjörg nicht nur eine bis dahin für ihn weniger bekannte Gegend und Landschaft kennen, sondern konnte auch miterleben, welche uralten Praktiken sich auf den Fazendas abseits der Städte bis heute erhalten haben. Im Umgang mit Rinder- und Pferdeherden lernte der Künstler etwas über den Brauch der Brandzeichnung und des Kastrierens der männlichen Tiere.
Bei seinem ethnografischen Tauchgang ließ sich Ottjörg vor allem von der verstörenden Gewalt beeindrucken sowie vom Aspekt des Rituellen, das er in der Beziehung der Menschen zu ihren Tieren beobachten konnte. Darin erkannte er eine Art Überlegenheitsgeste, deren metaphorischer Widerhall eine Reflexion über wichtige Fragen der Gegenwart möglich macht. Rinder und Pferde werden zu Boden geworfen, gebändigt, mit glühendem Eisen markiert und der mit der Kastration beauftragte Viehhirte schneidet ihnen mit eigenen Händen und einem einfachen Taschenmesser den Hodensack auf, um die Hoden zu entfernen. In der Gefangenschaft des Menschen und ohne Kraft, auf das zu reagieren, was ihm angetan wird, blutet das Tier, brüllt, bis es schließlich wieder in sein Habitat entlassen wird. Heftige Bilder von ungeheurer Gewalt für jeden, der dieser Realität nicht angehört und sie nicht gewöhnt ist. Das Entfernen der Hoden, auch bekannt als „Taschenmesserkastration“ hat die Zähmung zum Ziel und die Reproduktionskontrolle. Nach dem Verständnis der Menschen auf dem Land beseitigt die Kastration sexuelle Erregbarkeit, was die Tiere sanftmütiger und lenkbarer mache, da sie, anders als die reproduktionsfähigen, keine Revierkämpfe mehr austragen. Zudem sollen die Rinder nach der Kastration mehr Fett ansetzen, was ihr Fleisch saftiger macht; es hat also auch direkt etwas mit dem Markt zu tun.
Ottjörg begreift diese im ländlichen Süden Brasiliens noch immer gelebten Praktiken als einen Zugang zu Elementen im tiefen Inneren einer Kultur. Und dies aus dem Blickwinkel des Fremden, aus einer gewissen Distanz, die zeigt, wie ein Künstler von außerhalb dieser Realität sich von ihr berühren lassen kann, je mehr er ihre Codes allmählich versteht. Dem Künstler wird dabei ein sensibler Umgang mit Alterität abverlangt.
***
Zu Beginn macht er in einer ersten, dokumentarischen Etappe der Recherche Fotos und Videoaufnahmen, zunächst als Studienmaterial und zur Vorbereitung des Projekts. Material, das höchstens eine Dokumentation des Prozesses und der Hintergründe darstellt. „Die dokumentarische Arbeit hilft mir den Ort zu begreifen, und wie ich mich in ihm situieren kann", sagt der Künstler. Doch schon in diesem Moment steckt ein partizipativer und gemeinschaftlicher Aspekt, der auf eine Absage an die individuelle Autorschaft verweist. Als Augenzeuge des Brandzeichnens und Kastrierens der Herden macht sich der Künstler gemein mit dem, was er als eine Art Ritual begreift; denn was für gewöhnlich mit der Arbeit an den Tieren beginnt, endet fast immer mit einem von „Churrasco“ gekrönten Fest. Ottjörg macht eigene Aufzeichnungen, doch er leiht seine Kamera auch anderen Beteiligten, was den Blickwinkel der Dokumentation weitet.
Sein künstlerisches Werk entwickelt sich über die Sprache der Druckgrafik, allerdings ausgeführt als Prozess und über alternative und experimentelle Verfahren. Sofort nach dem Markieren des Tieres mit dem Brandeisen bittet Ottjörg den Hirten, ein Brandmal auch auf dem Papier zu hinterlassen (sehr präzise umrissene grafische Zeichen, serielle Markierung). Wenn sich das Brandeisen nicht durch das Papier brennt, hinterlässt es als Abdruck auch Spuren von tierischer Lederhaut. Bei der Kastration bittet er den Kastrierer um einen Abdruck seiner blutigen Hand und des Messers, mit dem er die Hoden abgetrennt hat (die Flecken, die Tropfen, die Hände, die abstrahlenden Finger). Die Methode an sich ist schon eine Art Choreografie, in deren Verlauf der Künstler andere Personen an seinem Werk beteiligt und lediglich Anweisungen gibt.
Die zweite Etappe von „Marca rural“ geschieht nach der Rückkehr in die Stadt mit dem Druck in der Grafikwerkstatt des Museums der Arbeit (Museu do Trabalho) in Porto Alegre. Ausgehend von den ursprünglich draußen bearbeiteten Papieren, auf denen er sich die Abdrücke und Gesten der Hirten aneignete, beschreitet Ottjörg nun zwei unterschiedliche Arbeitswege. Zum einen verteilt er kleine Fleischpartikel aus den Rinderhoden der beobachteten Kastrationen. Unter dem Druck der Andruckrolle entsteht auf dem Papier als Resultat des Druckprozesses ein unvorhersehbares Bild (die scheinbar explodierenden Kerne). Den gleichen Prozess durchläuft die andere Hälfte der Arbeiten, in denen Pferdehaar von den Mähnen Verwendung findet (die freien Linien). Erneut bedingt hier der Prozess das letztendliche Bild, allerdings mit besonderen Eigenheiten. Die Druckgrafik bringt eine bestimmte visuelle Bedeutung auf Papier, in Ottjörgs Arbeiten drückt sich darin auch sein künstlerisches Denken als Idee und Konzept aus. Die Verwendung von lebender Materie als Material für die Kunst kennt Vorläufer in der Kunstgeschichte. Im Fall von Rio Grande do Sul tritt „Marca Rural“ in Dialog mit der Arbeit von Karin Lambrecht (Porto Alegre 1957), die in den 1990er Jahren mit Tierblut eindrucksvolle Werke schuf. Doch ihre Ansätze sind unterschiedlich, insofern als Lambrecht von der Malerei kommt und Ottjörg die Sprache und Ausdrucksmittel der Druckgrafik auslotet.
Technisch gesehen fügt sich seine Arbeit ein in den Gedanken eines erweiterten Begriffs der Druckgrafik: Nicht nur, dass er für die Technik fremde und unübliche Materialien verwendet (Hoden, Blut, Pferdehaar), sondern er zeichnet auch nicht, sondern komponiert Bilder, indem er die Gesten der Viehhirten und das gesammelte Material auf dem Papier organisiert, miteinander verbindet. Das erinnert an dadaistische Vorgehensweisen der Collage und Montage. Schließlich kommt noch der Zufall ins Spiel, die Wahrscheinlichkeit und die Überraschung durch den Einsatz der Druckrolle, denn erst was beim Durchlaufen des Druckvorgangs geschieht, bestimmt letztlich das Resultat der Abbildung.
***
Wie man sieht, durchzieht eine ausführliche Temporalität das Projekt „Marca rural“. Man kann sie sowohl im Prozess des Künstlers und den im Werk enthaltenen visuellen Indizien und Materialien erkennen, ebenso in den Aspekten, die auf Grund der Investigation archaisch anmutender Praktiken und Riten interessant sind. Hier tauchen Fragen auf, auch als starker politische Kommentar zu verstehen, , die von der Zähmung und Kastration der Tiere durch den Menschen ausgehend eine Reflexion über so drängende Themen wie Gewalt, Herrschaft und Macht bedingen. Vor allem die Kastration ist zudem ein sehr kraftvoller Weg, über den anhaltend machistischen und patriarchalen Charakter der heutigen Gesellschaft nachzudenken sowie über nach wie vor herrschende Formen der Appropriation. Das Blut wiederum verweist bekanntermaßen auf Endlichkeit zwischen Leben und Tod. Und wie könnte man bei der Andruckrolle nicht an ihren starken metaphorischen Gehalt im Sinne von Druck und Unterdrückung denken?
So stellt sich „Marca rural“ als ein kritisch kommentierendes Werk dar, das sich als solches jedoch weder aufdrängt, noch Kompromisse in der ästhetischen Formulierung eingeht. Die Fragen, die es aufwirft, werden, anders als in der eingangs erwähnten Tradition der sozial und politisch engagierten Grafik, weder explizit noch figürlich dargestellt, sondern sind in den Werken als Konzept und Prozess, Indiz und Präsenz enthalten. Der wenn überhaupt zu erkennende Kommentar bezieht sich letztendlich auf das weitläufige kulturelle System, in dem wir uns alle befinden.
Auch aus diesem Grund ist es kein Werk, das eine überlebende Tradition romantisiert und den Gedanken verstärken würde, dass die Menschen vom Lande durch ihre stärkere Nähe zu Sitten und Gebräuchen der Vergangenheit automatisch authentischer und wahrhaftiger seien. Im Gegenteil entzieht sich der Künstler jedweder Folklorisierung von Kultur. Und zu dieser kritischen Sichtweise tragen sicherlich die Distanz und sein „Blick von außen“ bei.
Nach Ottjörgs Ansicht sollte sich sein Werk weder über den Prozess noch die Fragestellungen erklären, daher auch die Bemühungen an dieser Stelle, zunächst jede Information über den Prozess und die Bestandteile des Werks zu vermeiden zugunsten einer Erfahrung des unmittelbaren Kontakts. Betrachten wir seine Projekte in ihrer Gesamtheit, fällt auf, dass sich der Künstler selbst um vordergründige Erklärung, die eine Lektüre seines Werks anleiten würde, weder bemüht, noch bemühen will. Seine Absicht ist vielmehr, dass wir uns zunächst von dem berühren lassen, was der ästhetische Aspekt seiner Arbeit ausstrahlt, um selbst und mit eigenen Mitteln das uns jeweils mögliche Verständnis zu formulieren. Er fordert also, das Konzept erst nach der Ansicht seiner Werke zu liefern. Anders gesagt will er als Künstler die Rezeption des Inhalts und der Idee keinesfalls ausschalten, sondern lediglich hinauszögern. Dies mag eine Utopie sein in einer Welt, die alles auf der Stelle zu bezeichnen versucht, und genau deswegen schlägt er eine Bresche in die Szenerie der Gegenwart, indem er dem flirrenden Rhythmus der Überflutung durch Bilder mit vorgefertigten Botschaften, die uns zu jeder Zeit überfallen, Einhalt gebietet.
Ottjörg stellt seinen Werken weder die Deutung voran, noch sagt er uns, was wir zu denken haben. Und indem er die künstlerische Erarbeitung in den Vordergrund stellt, lässt er seine Werke zu eigener Kraft finden und nicht in die Falle der pamphlethaften Vereinfachung und der Predigten des politisch Korrekten tappen, von denen die zeitgenössische Kunst unserer Gegenwart überflutet wird.
Francisco Dalcol hat an der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul (UFRGS) in Kunsttheorie, -kritik und -geschichte promoviert. Seit 2019 ist er Direktor des Kunstmuseums von Rio Grande do Sul MARGS in Porto Alegre, Brasilien.