Corona Dollar Creazione

Sensibler Spurensucher

Michael Stoeber

2021


Zum Werk von Ottjörg A.C.

Ein Befund von Paul Cézanne (1839-1906), den Ottjörg A.C. gerne zitiert, lautet: „Man muss sich beeilen, wenn man etwas sehen will, alles verschwindet.“ Das scheint einigermaßen paradox, lebte der französische Künstler doch in einer Zeit, in der Medien der Vervielfältigung, der Fotoapparat, die Presse, der Buchdruck, an Fahrt aufnahmen, die in ihrer Funktion als Chronisten dem Bewahren verpflichtet sind und dem Vergessen im Prinzip entgegenstehen. Aber Cézanne lebte auch inmitten einer industriellen Revolution und damit eines gewaltigen Prozesses sozialer, ökonomischer, ökologischer, technologischer und politischer Transformation, der das Gesicht der Gesellschaft jeden Tag ein wenig mehr veränderte. Der Künstler hatte ein seismografisches Gespür dafür, beobachtete präzise und brachte auf den Begriff, was schon damals richtig war, mehr als hundert Jahre später indes erst recht gilt.

In diesem Prozess der Veränderung, der heute noch sehr viel rascher und rasanter voranschreitet, als Paul Cézannes ihn je erlebte, ist der Künstler Ottjörg A.C. ein großer Bewahrer und Sichtbar-Macher. Ein Spurenleser und Deuter sozialer Prozesse, die er in seinen Werken nie ohne politischen Hintersinn vor unsere Augen stellt. Darin zeigt sich der Einfluss seines Lehrers Alfred Hrdlicka, bei dem er Bildhauerei studierte. Doch die Formen, die Ottjörg A.C. für sie findet, haben mit dem expressionistischen Furor seines Professors nicht das Mindeste gemein. Sie orientieren sich vielmehr an den konzeptuellen Inventionen Marcel Duchamps, der wie kein zweiter die Kunst der Moderne revolutionierte. Und an den Vorstellungen einer „sozialen Plastik“, wie sie Joseph Beuys vom Künstler verlangte. In der Verbindung von archäologischer Spurensuche und politischem Readymade findet Ottjörg A.C. in seinen Arbeiten zu höchst singulären Ausdrucksformen. Sie manifestieren sich in seinem Werk als sensible Signaturen von großer Wiedererkennbarkeit.

Ottjörg A.C. ist mit seinem Fotoapparat auf allen fünf Kontinenten des Planeten unterwegs. Er ersetzt ihm gewissermaßen das Skizzenbuch. Was ihm als denkwürdig auffällt, fotografiert er. Dann formt er daraus bildnerische Serien. Vielleicht am Bekanntesten sind seine Tiefdrucke von Schulbänken und Scratchings. Letztere sind von Jugendlichen zerkratzte Fensterscheiben in Bussen, S- und U-Bahnen. Sie stammen aus 12 Metropolen dieser Welt, darunter Berlin und Wien, Paris und New York. Was sie bei allen Unterschieden eint ist – ähnlich wie bei Graffitis – der Protest der jungen Menschen gegen eine von Erwachsenen verwaltete und kontrollierte Welt, die ihren Träumen und Utopien oft verständnislos gegenüberstehen. Ähnlich ist es bei den Schulbänken aus aller Welt, die Ottjörg A.C. gleichfalls als Druckstöcke nutzt. Die Tags und Bilder, die sie tragen, dokumentieren die Ängste und Hoffnungen ihrer widerständigen AutorInnen.

Zugleich wird in ihnen eine Dialektik von Macht und Ohnmacht manifest, die sich durch jede Gesellschaft zieht. Gegen sie wehren sich die jungen UrheberInnen dieser Einritzungen, die sich mit ihnen momenthaft aus ihrer Ohnmacht befreien, um im Protest zu sich selbst und zu kraftvoller Autonomie zu finden. Da Ottjörg A.C. dies wie kein anderer erkannt hat, ist es nur logisch, dass er sich jener Äußerungen zivilen Ungehorsams auch in anderen Kontexten staatlicher Repression als subtiler Gesten der Auflehnung bedient. So kann man den Künstler in einem Film („Was ist die Absicht eines Denkmals?“) sehen, in dem er in Porto Alegre, Brasilien, staatstragende Memoriale im öffentlichen Raum mit den Bildern jugendlicher Revolte versieht und dem hintersinnigen Hinweis, sie seien die eigentlichen „Marcas Urbanas“ dort.

In ihrer oft informellen Subjekthaftigkeit stellen diese urbanen Zeichen einen äußersten Kontrapunkt dar zu dem, Geschichte und Staatsräson verherrlichenden Pathos der Denkmäler. Mit ihnen wendet sich das Private gegen das Öffentliche und Kritik gegen Affirmation. Nur ist das für die BetrachterInnen nicht immer unmittelbar einsichtig. Das wird auch deutlich, wenn Ottjörg A.C. in einem weiteren Film („Rediscovering China“) vor chinesischen Mauern und Säulen steht und in Form malerischer Abriebe ihre Physiognomie für die PassantInnen sichtbar macht, die sonst wohl eher achtlos an ihnen vorübergehen. Sie interessieren sich für das Tun des deutschen Künstlers, stehen ihm aber erst einmal verständnislos gegenüber. Was für viele von ihnen jedoch ein Anlass ist, ihn zu fragen, was er denn da eigentlich mache. Und das sich daran anschließende Gespräch ist für Ottjörg A.C. eine wichtige Motivation seiner Kunst. Darin ist er sich mit dem schottischen Künstler Douglas Gordon einig, der in einem Gespräch mit dem Autor dieses Textes die ultima ratio seiner Werke einmal mit den Worten beschrieb: „For me art is a means of communicating with people.“

Diese Kommunikation führt nicht selten zu wichtigen Ergebnissen und Einsichten. Auch für den Künstler, der dabei den eigenen Standpunkt zu schärfen und zu prononcieren weiß. Wie das bei einer der vorerst letzten Projekte von Ottjörg A.C. der Fall war, dem Werk „Corona dœllar Creazione“ (2020), bei dem er aus 500 nordamerikanischen Ein-Dollar-Noten eine Tasche bildete. Angeregt dazu wurde er auf einer Reise im Jahr 2019, als er auf einem Markt in Kolumbien Taschen entdeckte, die aus venezuelischen Banknoten geflochten waren. Das Geld hatte seinen monetären Wert verloren und gewann neuen Wert als gestaltetes Material in Form dieser von Ottjörg A.C. als hoch ästhetisch empfundenen Taschen. Darin manifestiert sich ein interessanter Widerspruch, da das Geld, aus dem sie gemacht sind, implizit auf die viel ältere Tauschwirtschaft zurückweist, die es einst als abstraktes Zahlungsmittel zu überwinden half. Auch das verfehlte nicht, auf den Künstler Eindruck zu machen.

Dieses Projekt legte Ottjörg A.C. gleichfalls als kommunikatives an. Die Kommunikation ist bei ihm sogar Teil einer a priori festgelegten Struktur, sammelte der Künstler doch das Geld für seine Tasche bei Freunden und Bekannten ein. Nicht aus finanzieller Not, sondern aus künstlerischem Kalkül heraus. Dabei erläuterte er ihnen sein Projekt und bat sie um Stellungnahmen. Sie kamen nicht selten in Form begeisterter Zustimmung, einmal aber auch als vehemente Ablehnung, geäußert von seinem alten Schulfreund Jürgen. Daraus erwuchs eine spannende Kontroverse, die für die BetrachterInnen des Projekts zunehmend erhellende und aufklärerische Züge annimmt. Jürgen wehrte sich gegen das Projekt, das er für „kunstgewerblich“ hielt und mahnte den Künstler: „Mit Geld in Notenform ‘künstelt’(sic) man nicht“. Auch wenn es seinen Wert verlöre, sei es „ein Symbol der Existenz“. Für Ottjörg A.C. wurden die Einwände des alten Freundes zum Anlass für eine lange, lesenswerte Antwort. In ihr legt er dar, warum er Künstler geworden ist und wie er seine Kunst versteht: „Kunst ist kein Spaß. Kunst ist keine Unterhaltung oder Zerstreuung. Kunst ist Auseinandersetzung mit dem Leben. Und insofern muss man sich mit der Schule, mit Geld und mit Blut beschäftigen.“ Gegen jede von Jürgen reklamierte Wohlfühl-Kunst ruft Ottjörg A.C. Franz Kafka zum Zeugen seines Tuns auf, von dem das berühmte Diktum stammt: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Eis in uns.“

Ottjörg A.C. hätte als gelernter Bildhauer Jürgen auch noch sagen können, dass es in der Kunst der Moderne grundsätzlich keinen Stoff gibt, der nicht zum skulpturalen Tun taugt. Dass für die zeitgenössische Kunst die Abwendung von klassischen Materialien wie Marmor und Bronze hin zu allen möglichen, von ihr nobilitierten Stoffen geradezu paradigmatisch ist. Viele ungewohnte und ungewöhnliche Stoffe wurden so schon zu Elementen der Kunst, sei es nun Gummi oder Gusseisen, Beton oder Butter, Wasser oder Watte. Jeder rostende und nichtrostende Stahl sowie Kunststoffe aller Art. Auch Autowracks bei John Chamberlain, Filz und Fett bei Joseph Beuys, Lebensmittel bei Dieter Roth und Rirkrit Tiravanija bis hin zu Skulpturen aus Wasserdampf bei Robert Morris, um nur einige Künstler zu nennen. Zudem strebt die bürgerliche Vorstellung, man habe mit Essen oder Geld nicht zu spielen, das sich hinter Jürgens Einwänden verbirgt, hin zu einer Ebene des Erhabenen, die der modernen Kunst schon immer verdächtig war. Doch das Verbot des Spielens ruft auch einen Klassiker wie Friedrich Schiller auf den Plan, von dem wir wissen, wie künstlerisch das Spiel und das Spielen sein können und der in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ die denkwürdigen Sätze schreibt: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Zum Kunstgewerblichen, was Jürgen mit dem Motiv der Tasche aus Geldscheinen verbindet, haben die Pop Art mit ihrer Einebnung von High and Low und Andy Warhol, der im Übrigen auch Dollarnoten malte – sie waren eines seiner Lieblingsmotive –, das Notwendige gesagt. Wenn Ottjörg A.C. in seinem Antwortbrief an Jürgen auf die Medialität von Kunst und Geld hinweist („Geld ist ein Medium, so wie Kunst ein Medium ist.“), dann berührt er eine Verwandtschaft, die auch Joseph Beuys in einem seiner Werke hervorgehoben hat. Es handelt sich dabei um die Installation „Wirtschaftswerte“ aus dem Jahr 1980. Sie präsentierte abgepackte Lebensmittel aus der DDR auf einfachen Eisenregalen als Gegenbild zum Überangebot einer westlichen Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Beuys hatte die Lebensmittel gestempelt und beschriftet, um deutlich zu machen, dass sie Träger von Energie sind. Wenn wir essen, nehmen wir Energie auf. Nahrungsmittel sind Lebensgrundlage und damit auch Quelle menschlicher Kreativität. Noch deutlicher wird die Verwandtschaft der Werke beider Künstler in einem Vortrag von Beuys aus dem Jahre 1978 zur Frage „Was aber ist Kapital?“. In ihm entwickelte er sein System der Wirtschaftswerte, und darin nimmt die Kunst als das wahre Kapital menschlicher Fähigkeiten eine wichtige Rolle ein. 1979 schrieb Beuys die Formel „Kunst = Kapital“ auf einen Zehnmarkschein, weil er wollte, dass man das durchaus wörtlich nimmt. Dass man die Kreativität und die schöpferische Energie des Einzelnen als Kapital und Potenzial einer Gesellschaft begreift.

Parallel zu seinem Taschen-Projekt „Corona dœllar Creazione“ hat Ottjörg A.C. ein Corona-Tagebuch geführt. Es umfasst die Monate von März bis August 2020 und operiert vorwiegend visuell, wie es bei einem bildenden Künstler wie ihm kaum anders sein kann. Dazwischen finden sich Sätze, mit denen er seine Tage kommentiert. Das Diarium zeigt Ottjörg A.C. in immer neuen Aufnahmen, die er in seiner Wohnung in Sofia, auf einer Reise an die Schwarzmeerküste und in seinen Ateliers in Berlin und Brandenburg von sich gemacht hat. Wir sehen ihn bei der Arbeit an seiner Tasche aus Geldscheinen sowie in nachdenklichen Momenten und entspannter Muße. Oder auch bei der Prüfung eines Flugtickets, das er wegen des Lockdowns nicht mehr in Anspruch nehmen konnte, und beim Studium von Papieren zur Beantragung staatlicher Wirtschaftshilfe. Dazwischen hat er Bilder eingestreut, die er u. a. vom Fernseher oder aus Zeitungen abfotografiert hat. Sie präsentieren Politiker und Virologen, Ärzte und Patienten, Polizisten und Demonstranten, Menschen mit und ohne Masken, die grafischen Verlaufsformen der Pandemie sowie die wechselnden Aktienkurse an der Börse. Alles, was Ottjörg A.C. in dieser Zeit an Informationen zur Kenntnis genommen und was seinen Verstand und sein Gefühl bewegt hat.

Das Ganze als Ausdruck von Narzissmus zu bewerten, wäre ein völliges Missverständnis. Der Künstler inszeniert sich in diesem Tagebuch als unser Stellvertreter. Was ihn bewegt hat, hat weitgehend auch uns bewegt. Und er demonstriert, wie in der Struktur, die er seinem Tun und Sein in der Zeit des Lockdowns gab, der einzig mögliche Ausweg aus den Depressionen dieser Tage lag, so niederdrückend sie auch immer gewesen sein mögen. Von Fjodor Dostojewski, dem ewig in finanziellen Nöten befindlichen russischen Dichter, stammt das Wort: „Geld ist geprägte Freiheit“. Begriffen wird es gemeinhin in dem Sinne, dass sich viel leisten kann, wer viel besitzt. Der semantische Hallraum von Freiheit reicht indes weiter. Um das zu begreifen, muss man nicht die, den Gegensatz zum Geldhaben betonenden, lyrischen Töne eines Rainer Maria Rilke bemühen: „Armut ist ein großer Glanz aus Innen.“ Aber es kann nichts schaden, sich deutlich zu machen, dass wahre Freiheit sehr viel mit dem Vermögen zu tun hat, sich gelegentlich von den Zwängen des Geldes frei zu machen. Und sei es auch nur, indem man es wie die Kolumbier in spielerischer Manier zweckentfremdet. Oder wie Ottjörg A.C. in Kunst verwandelt, die uns angeht.