Preußen schwarz-weiss

Verborgene Geschichten

Cauê Alves

Die Drucke von Ottjörg A.C. sind aufgeladen mit historischen Bedeutungen. Spuren, Risse und Schnitte auf den Oberflächen sowie die Druckverfahren und die Wahl der Matrizen erweitern die Möglichkeiten zum Verständnis historischer Narrative. Branco-preto prussiano (Preußisch-Schwarzweiß) zum Beispiel ist ein Projekt, das die Spuren der Vergangenheit aus der Tiefe der Erde herausholt.

Wenngleich es die Farben Schwarz und Weiß waren, die die ehemalige Flagge des Königreichs Preußens kennzeichneten, ist es doch das sogenannte Preußisch Blau, das selbst nach dem Niedergang des Reichs erhalten blieb. Als der Chemiker Heinrich Diesbach im Jahr 1704 versuchte, das wertvolle Rot-Pigment herzustellen, entdeckte er ein synthetisches Blau. Durch einen Zufall, nämlich über die Oxidation von Eisen, gelangte er zu diesem Farbton, der später zum Färben der preußischen Militäruniformen verwendet wurde.
Ottjörg A.C.s Drucke enthalten nicht nur das Preußisch Blau, sie wurden außerdem mit Matrizen gefertigt, die Teil der verborgenen Vergangenheit Deutschlands sind. Unter Verwendung verschiedener traditioneller Techniken druckte der Künstler nämlich die komplette Oberfläche der Holzpfähle der königlichen Residenz Preußens. Hierbei handelt es sich um gut fünf Meter lange, 300 bis 400 Jahre alte Baumstämme, die das Fundament des Schlosses Friedrich Wilhelm I., König von Preußen zu Beginn des 18. Jahrhunderts, bildeten. Soldatenkönig genannt, war er einer der Hauptakteure beim Aufbau der preußischen Militärmacht, deren Hauptstadt Berlin war.
Diese einst in die Erde gerammten Holzstämme wurden bei einer Art archäologischen Ausgrabung entdeckt. 2012 mussten bei den Bauarbeiten zum Wiederaufbau der Fassade des Schlosses, dieses Bauwerks eines der mächtigsten Königreiche Europas, das von 1871 bis 1918 Sitz des Kaiserreichs war, die alten Fundamente entfernt werden. Sie sind der unsichtbare Teil, der jenen Bau stützte, in dem die institutionelle politische Macht ausgeübt wurde. Diese Holzstämme stellen buchstäblich die vergrabene Struktur dar, auf die sich das Symbol der Macht gründete. Es ist, als würden die monumentalen Grafiken des Künstlers Geschichtsfragmenten eine Sichtbarkeit verleihen, indem sie genau von dem Nicht-Sichtbaren ausgehen, das jedoch die ganze sichtbare Welt stützt.
Neben dem Preußisch Blau und dem Eisenstaub hat Ottjörg A.C in seinen Drucken auch Tierblut, z.B. von Pferden, verwendet. Dies mag eine Anspielung auf die blutigen Schlachten und Kriege sein, in denen die Pferde wichtige Bestandteile des Heeres waren. So, wie das Fundament im Boden die Gebäude stützt, ist das Blut die zentrale Flüssigkeit, die im Körper fließt und die nötigen Elemente wie das Eisen transportiert, damit der Körper bestehen kann. Das Eisen des Preußisch Blau und das Blut waren nicht nur im metaphysischen Sinne bedeutsam, sie waren auch Hauptakteure bei der Errichtung des deutschen Staates. Otto von Bismarck, wichtigster deutscher Staatsmann des 19. Jahrhunderts, bekannt als Eisenkanzler, musste, wie viele andere auch, Blut vergießen, um seine politischen Ideen durchzusetzen.
Blut und Gewalt waren auch die Rohstoffe, die Ottjörg A.C. bei Marca Rural (Ländliches Mal) verwendete, einem Werk, das er im Inland des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul schuf. Hier verwendete der Künstler als Matrizen für seine Monotypien die Hoden kastrierter Rinder und als Farbe Tinte. Die erotische Kraft der Sexualorgane der Stiere verbindet sich so mit der Gewaltanwendung, der diese Tiere ausgesetzt sind. Die Drucke beinhalteten auch Zeichen eines Opfers, nämlich des profanen Rituals zur Kennzeichnung des Viehs mit dem Brenneisen und dem Emblem ihres Besitzers. Das stumme Leid der Tiere ist in der Arbeit präsent. Das heiße Eisen, mit dem man die Rinder kennzeichnete, wurde, noch mit Haarresten behaftet, auf das Papier gedruckt, das so zu einer Entsprechung der Haut, zum Symbol für die Macht des Besitzers und die Herrschaft durch physische Gewalt wurde. Die Drucke, die sich vom Bereich des Darstellenden entfernen, machen die menschliche Barbarei sichtbar, auf die sich die Zivilisation und die Kultur seit Menschengedenken stützen.
So, wie die Grundpfeiler des Schlosses in Branco-preto prussiano (Preußisch Schwarz-Weiß) die Grundlage der militärischen Macht des Königreichs aufzeigen, verdeutlicht Marca Rural (Ländliches Mal) die tägliche Gewalt, die sich auf die Umwandlung von Tierleben in mit dem Eisen gekennzeichnetes Eigentum gründet.
Eisen ist ein zentraler Rohstoff im Werk von Ottjörg A.C., sei es als Pigment, als Matrize oder sogar als verschwundenes Element. Während seines Aufenthalts in Porto Alegre bemerkte der Künstler, dass verschiedene Eisenplaketten zur Kennzeichnung öffentlicher Denkmäler der Stadt gestohlen worden waren. Im Bewusstsein darüber, wie fehlende Informationen über Denkmäler das Gefühl für die Geschichte beeinflussen können, verwirklichte er eine bedeutsame Aktion: Die fehlenden Plaketten wurden ausgemessen, und der Künstler produzierte stattdessen Plaketten aus Harz mit Drucken aus seiner Serie „Marca rural“ (Ländliches Mal). Anschließend wurden die Leerstellen mit den Werken des Künstlers gefüllt. Bei dieser Arbeit geht es um die Transformation von Denkmälern zu bloßen Bildern, und sie zeigt auf, wie alte Rituale in abstrakten Drucken erhalten bleiben.
Öffentliche Denkmäler erzählen in der Regel die Geschichte von Siegern, von jenen, die Kriege und Schlachten gewannen und zu Helden wurden. Die Geschichte der Sieger neigt dazu, bestimmte Persönlichkeiten zu mystifizieren, und sie bestimmt, dass eine Vergangenheit als wahr aufgefasst wird. Doch das Vergessen, auf das die fehlenden Plaketten hinweisen, ist wie eine Negierung dieser offiziellen Geschichte, ist eine Leere, die, zumindest kurzfristig, die Sieger in Besiegte umwandelt. Die Narrative, die sie zu Protagonisten machten, sind ausgelöscht.
Die Arbeit des Künstlers macht die Leere und Stille einer begrabenen oder verschwundenen Geschichte sichtbar. Und in den städtischen Ruinen und städtischen Spuren findet Ottjörg A.C. die Möglichkeit zur Kritik, mit der er den steten Fluss der Geschichte unterbrechen kann.