In Zeiten der Selbstreflexion in einer Flut von digitalen Bildern, vor allem Selfies, gewinnt das Porträt eine neue Bedeutung. Es bleibt ein Medium der Re/Präsentation. Allerdings, oft nur
für den flüchtigen Moment, bleibt es in der Cloud über Jahre hinweg für jeden zugänglich.

Mit ästhetischen Mitteln kreisen meine Arbeiten seit Jahren um Fragen unserer flüchtigen Gedächtnisspeicherung, um das Eingeworfene, Eingekratzte, um Zeichnungen als spontane Schöpfungen, die den Augenblick befriedigen, aber eigentlich für die Ewigkeit bestimmt sind. Die künstlerische Haltung, eine Skizze von Leonardo da Vinci zum Beispiel, die auf den Autor verweist, seine Identität bestätigt, ist ein Vorgang, den die abendländische bildende Kunst spätestens seit der Renaissance kennt.

Was bedeutet es, wenn dieses Verfahren auf Schulbänken, auf Fenstern von öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Denkmälern und Bauwerken wie der Chinesischen Mauer angewendet wird? Ist es Ausdruck einer Ästhetisierung des Alltags oder impliziert es, dass jeder Mensch ein Künstler ist? Warum muss eine materielle Spur von einem Selfie für das Internet begleitet werden? Dieses Phänomen ist nicht an die soziale Schicht oder Bildung gebunden.

Der Präsident der Republik Slowenien freut sich genauso, wenn er anlässlich der Grafikbiennale in Ljubljana etwas in eines meiner gläsernen Gästebücher kritzeln darf, wie der Museumsdirektor in Bremen oder der Obdachlose, der den weiten Weg nach Kassel zur documenta zurückgelegt hat. Und was ist mit dem Selfie für die sozialen Medien? Wir spüren, dass es im Fluss ist und haben keine Macht darüber, ob und wie es im Meer der Bits und Bytes verschwindet.

In meiner EPOFAKT-Inszenierung entstehen innerhalb von zwei bis drei Stunden rund 300 kleine Bilder: drei überleben in einem fiktiven Museum.
In DeskXistance, einer globalen Studie, werden die Kratz- und Ritzspuren von über 300 Schultischplatten, die über Jahre hinweg von Schülern während des Unterrichts entstanden sind, in Abzüge verwandelt.
In Existentmale, ebenfalls eine globale Studie, werden die von Jugendlichen zerkratzten Fenster von U-Bahnen in Drucke verwandelt.
Und in Wandmale - Stigmata werden Versuche, durch Namensgravuren an kulturgeschichtlichen Orten eine individuelle Existenz zu schaffen, mittels Frottage festgehalten.

Protelics bietet eine bessere Alternative zu dem, was mir als verzweifelter Versuch erscheint, in der Masse sichtbar zu werden, sei es durch physische Inschriften oder durch auf Facebook gepostete Selfies. Man kann sein Porträt mit der eigenen Haut oder durch das eigene Gesicht mit seinen körperlichen Spuren des Lebens erstellen. Das Selbst ist schon da - es muss nur übertragen werden, um im Bild unmittelbar präsent zu sein.

In diesem Porträt wird der Protagonist nicht durch die Hand des Künstlers" interpretiert: Die Versuchsanordnung und der Prozess des Porträtierens sind das Artefakt. Der Porträtierte wird einfach durch seine eigenen Proteine präsent sein. Aber nicht durch irgendwelche Proteine. Sie zeichnen nicht die Physiognomie des Gesichts nach. Sie sind nicht mimetisch, sondern waren - vor dem Aufbringen des Filterpapiers - die eigentliche Epidermis des Gesichts, seine Schutzhaut.

Porträtmalerei und Fotografie sind zweidimensional. Ein menschliches Gesicht ist dreidimensional. Eine gesunde Haut ist voller Leben: Schweiß, Fette, Proteine und Bakterien.

Spätestens seit der Renaissance ist unsere Sehgewohnheit der Gesichtserkennung eine Selbstverständlichkeit und wir stellen uns kaum die Frage, was wir eigentlich erkennen. In der Regel können wir das Gesicht einer bestimmten Person zuordnen. Dieser Prozess wird durch digitalisierte Gesichtserkennung und biometrische Daten bestätigt und verstärkt. Trotz 3-D-Modellen bleibt jede Darstellung auf dem Bildschirm zweidimensional.
Warum sollten der Abstand zwischen den Augen und die Länge der Nase für mich als Gegenüber wichtiger und interessanter sein als all die Geschichten, die die Haut erzählt?