Existentmale

Auszüge aus dem Eröffnungsgespräch zur Ausstellung Ottjörg A.C (mit Norbert Poredda)

Jens Semrau

Zur Eröffnung der Ausstellung Ottjörg A,C, - Norbert Poredda
Schul und Bethaus Altlangsow, 29. 7. 2001
Jens Semrau

Mit der Behauptung ist die Fragwürdigkeit verbunden und gerade das ist eine produktive Situation. Die Behauptung darf sich nicht an die Gewohnheit und den Konsens lehnen.
Die Bildhauerei ist nicht mehr an Werkzeuge und Material gebunden und dadurch erkennbar. Dass man sich immer noch auf den Begriff Plastik bezieht, das zeigt doch, dass man ihn nicht braucht. Möglicherweise ist der alte Anspruch auf Öffentlichkeit immer noch ein Merkmal. Insofern sind Bildhauer und ist der Begriff der „Plastik“ in der durch die Medien geprägten heutigen Zeit sehr deutlich präsent und anders präsent. Vielleicht sind sie es nicht als Bildhauer, darüber wäre nachzudenken. Die Entgrenzung des Ästhetischen, etwas wie eine allgemeine Poetisierung des Alltäglichen hat längst die Bildhauerei erreicht. Der „Kampf ums Dasein“ ist heute ein Kulturkampf und bildhauerisches Denken ist in den allgemeinen Kulturkampf eingeflossen. Im Hinblick auf die Arbeiten von Ottjörg kam mir der Begriff Materialästhetik in den Sinn, ein etwas missverständlicher Begriff, den Werner Mittenzwei verwendet hat - für Brechts, Piscators, Heartfields Orientierung, das Material des gesellschaftlichen Alltags für ihre Poetik zu benutzen. Auch Ottjörg tritt zurück hinter die anonymen Zeichen und Chiffren an den U-Bahn-Scheiben, hinter das Material aus der Realität. Aber er arbeitet damit, ähnlich vielleicht wie Piscator seinerzeit mit Arbeitersprechchören. In den eingekratzten Chiffren einer minderjährigen Subkultur äußert sich ein anarchischer Impuls der seine Ursache in der Sprachlosigkeit hat, wie bildende Kunst Bilder produziert und Lebendigkeit ausdrückt. Es ist auch der „horror vacui“, die Scheu vor dem leeren Raum und der leeren Fläche, ein primitiver, aber ursprünglichere bildnerischer Impuls. Ich erinnere daran, dass Baudelaire die Bildhauerei eine Kunst von Karaiben nannte und damit sicherlich sagen wollte, dass sie eine Wurzel in der rohen Lebendigkeit des Realen hat. Insofern hat das alles schon mit der Bildhauerei zu tun, mit ihren Impulsen und Wirkungen. Trotzdem ist es hochartifiziell, was Ottjörg aus diesem Material macht, so dass Zweifel kommen, ob er nicht doch selber auch die Kratzzeichnungen der Druckplatten gemacht hat. In diesem wie im anderen Fall gehört wohl die Geschichte dazu, um den Akt in der Realität einzubinden und über eine Ästhetik hinaus zu kommen – man kann auch sagen, von ihr herunter zu kommen. Die Ästhetik ist natürlich da.

Jens Semrau (*1951) studierte von 1972 bis 1976 Kunstwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, und promoviert 1985. Freiberufliche Tätigkeit, Journalismus, Ausstellungsprojekte; 1993-2007 lehrte er Kunsttheorie und Kulturgeschichte an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.